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Building a Crossing Tower: A Design for Rouen Cathedral of 1516
Angeregt durch die kürzliche Entdeckung einer beeindruckenden, drei Meter hohen spätgotischen Zeichnung eines hoch aufragenden Turms und einer Turmspitze bietet dieses Buch einen seltenen Einblick in den Prozess der Planung und des Baus eines großen gotischen Projekts. Ort und Datum der Entstehung der Zeichnung sind unbekannt, und sie entspricht keinem erhaltenen gotischen Turm. Ebenso rätselhaft ist die Dreiviertelperspektive von oben, aus der der Turm dargestellt ist und die in keiner anderen mittelalterlichen Zeichnung zu finden ist. Wer hat das gezeichnet? Wann? Und was wollte der Zeichner mit der Darstellung des Turms von oben nach unten vermitteln? Building a Crossing Tower geht diesen Fragen nach und deckt die dramatischen Umstände auf, unter denen diese Zeichnung entstanden ist. Im ersten Teil des Buches wird die Zeichnung mit einem Bauprojekt in der Stadt Rouen in der Normandie, Frankreich, aus dem frühen 16. Rouen war damals eine blühende Hafenstadt, eine der bevölkerungsreichsten Städte Frankreichs, und eine pulsierende Baustelle, auf der schillernde, extravagante Kreationen Seite an Seite mit Renaissancegebäuden errichtet wurden. Im Zentrum dieser regen Bautätigkeit stand Roulland le Roux, der führende Maurermeister der Stadt, der höchstwahrscheinlich der Autor der neu entdeckten Zeichnung ist. Angesichts der Seltenheit französischer gotischer Zeichnungen sind die Entdeckung dieses beeindruckenden Werks und seine Zuschreibung an einen bekannten Künstler an sich schon ein bedeutendes Ereignis.
Darüber hinaus ist es in diesem außergewöhnlichen Fall auch möglich, den sozialen Kontext der Herstellung der Zeichnung zu rekonstruieren, der im zweiten Teil des Buches untersucht wird. Aus bisher unveröffentlichten Protokollen des Domkapitels geht hervor, dass die Zeichnung nach dem dramatischen Brand des Vierungsturms der Kathedrale im Jahr 1514 angefertigt wurde. Der Brand löste heftige Auseinandersetzungen unter den Domherren aus, die sich in zwei Fraktionen aufteilten: die eine wollte den Vierungsturm in Stein wiederaufbauen lassen, die andere setzte sich für einen sichereren und billigeren Holzturm ein. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Parteien und die wechselnden Schicksale der am Wiederaufbau beteiligten Künstler werden in den Protokollen des Kapitels in spannender Weise dokumentiert. Aus den Protokollen geht aber auch hervor, dass diese Zeichnung trotz ihrer beeindruckenden Größe, Perspektive und der gekonnten Darstellung virtuoser Schnitzkunst das Kapitel letztlich nicht davon überzeugen konnte, das Projekt zu unterstützen und zu genehmigen. Der extravagante gotische Turm wurde nie errichtet, und die Baustelle kam bis 1542 zum Stillstand, als schließlich ein Renaissance-Turm von Robert Becquet gebaut wurde. Diese Zeichnung stellt also einen gescheiterten Entwurf dar. Doch gerade deshalb bietet sie einen einzigartigen Einblick in die Baupolitik eines großen spätgotischen Projekts und wirft ein Licht auf eine sich ständig verändernde Landschaft der Gegensätze und Kooperationen.
Wird die Zeichnung oft als direktes Fenster in die Gedankenwelt des Meisters interpretiert, das durch die Berührung seiner Hand veredelt wird, so offenbart sich diese Zeichnung unerwartet als Spiegel des sozialen Lebens auf einer wichtigen spätgotischen Baustelle.