
The Homeless Jesus in the Gospel of Matthew
Wenn Obdachlosigkeit in der Regel mit dem Verlust sozialer Macht und Handlungsfähigkeit einhergeht, warum stellen sich dann die Gelehrten des Neuen Testaments das Umherziehen Jesu so oft als einen selbst gewählten Lebensstil vor, der frei von Entbehrungen ist? In dieser provokanten neuen Lektüre des Matthäus-Evangeliums untersucht Robert J.
Myles die Diskrepanz zwischen Jesus und der Obdachlosigkeit, indem er die politischen Voreingenommenheiten der modernen westlichen Leser aufdeckt. Ausgehend von der ideologischen Politik der Obdachlosigkeit in der heutigen Gesellschaft entwickelt Myles einen Interpretationsansatz, der von der marxistischen Kritik des Neoliberalismus und insbesondere von der kritischen Theorie von Slavoj IiIek geprägt ist.
Aus dieser Perspektive wird Obdachlosigkeit nicht als individuelle Entscheidung, sondern vielmehr als Nebenprodukt umfassenderer wirtschaftlicher, politischer und sozialer Kräfte betrachtet. Myles argumentiert, dass die Obdachlosigkeit Jesu in der neueren Bibelwissenschaft weitgehend romantisiert worden ist. Ist die Flucht nach Ägypten beispielsweise vor allem deshalb wichtig, weil sie Jesus als den neuen Moses darstellt, oder sollte die grundlegende Erzählung von der erzwungenen Vertreibung im Mittelpunkt stehen? Das Heilmittel, so Myles, besteht darin, die Obdachlosigkeit Jesu direkt gegen den Strich der zeitgenössischen Wissenschaft zu lesen, indem man sie in seinem weiteren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontext interpretiert, wie er im biblischen Text kodiert ist.
Um zu zeigen, wie die Ideologie die Interpretation eines obdachlosen Jesus mitgestaltet, werden ausgewählte Texte aus dem Matthäus-Evangelium neu gelesen, um die Not, die Verzweiflung und die Einschränkungen der Handlungsfähigkeit zu verstärken, die für ein kritisches Verständnis von Obdachlosigkeit unerlässlich sind. Daraus ergibt sich eine neue Wertschätzung für die Devianz des matthäischen Jesus, in der sein Status als vertriebener und entbehrlicher Außenseiter als Beitrag zu den Konflikten und der Gewalt in der Erzählung identifiziert wird, was schließlich zu seiner Hinrichtung am Kreuz führt.