
The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist oft als Motor der Integration und als juristischer Gesetzgeber bezeichnet worden. Inwieweit ist dies eine angemessene Beschreibung der Rechtsprechung des Gerichtshofs über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg?
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird eine neue heuristische Theorie der juristischen Argumentation entwickelt, die besagt, dass Rechtsunsicherheit ein allgegenwärtiges und unausweichliches Merkmal sowohl des primären Rechtsmaterials als auch der gerichtlichen Argumentation ist, das seinen Ursprung in einer Kombination aus sprachlicher Unbestimmtheit, Wertepluralismus und der Instabilität von Regeln im Zusammenhang mit Präzedenzfällen hat. Im zweiten Teil wird die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in diesem theoretischen Rahmen untersucht. Der Autor zeigt auf, dass die auslegende Argumentation des EuGH am besten im Sinne eines dreigliedrigen Ansatzes zu verstehen ist, bei dem der Gerichtshof seine Entscheidungen mit dem kumulativen Gewicht von zweckgerichteten, systemischen und wörtlichen Argumenten begründet. Dieser Ansatz entspricht mehr der orthodoxen juristischen Argumentation in anderen Rechtssystemen, als gemeinhin anerkannt wird, und unterscheidet sich von dem Ansatz anderer höherer Gerichte, insbesondere von Verfassungsgerichten, mehr im Grad als in der Art. Er lässt dem Gerichtshof jedoch einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Bestimmung des relativen Gewichts und der Rangfolge der verschiedenen Auslegungskriterien von Fall zu Fall. Die Ausübung des Ermessens durch den Gerichtshof lässt sich am besten verstehen, wenn man die Zwänge berücksichtigt, die sich aus dem akzeptierten Begründungsdiskurs und bestimmten außerrechtlichen Faktoren der juristischen Argumentation ergeben, zu denen eine Reihe politischer Faktoren wie die Sensibilität für die Interessen der Mitgliedstaaten, die politische Mode und die Ehrerbietung gegenüber dem "EU-Gesetzgeber" gehören.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Gerichtshof der EU die seinem Auslegungsansatz innewohnende Flexibilität und die Wahlmöglichkeit, die er in der Regel bei der Bestimmung des relativen Gewichts und der Reihenfolge der ihm zur Verfügung stehenden Auslegungskriterien hat, genutzt hat, um die Rechtsunsicherheit in den primären Rechtsmaterialien der EU in einer weitgehend gemeinschaftskonformen Weise zu lösen, wobei jedoch i) die politischen, verfassungsrechtlichen und haushaltspolitischen Empfindlichkeiten der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind, ii) je nach den Zwängen und dem Ausmaß des Auslegungsspielraums, die sich aus dem Grad der sprachlichen Unbestimmtheit der fraglichen Bestimmungen, dem relativen Status der anwendbaren Normen und dem Grad ihres potenziellen Konflikts sowie dem Umfang und der Klarheit der zur Lösung der Rechtsunsicherheit erster Ordnung verfügbaren Auslegungstopoi ergeben, und schließlich iii) unter Berücksichtigung des weitgehend unvorhersehbaren persönlichen Elements in jeder Rechtsprechung. Nur in Ausnahmefällen, die nach Auffassung des Gerichtshofs den Kern des Integrationsprozesses berühren und den gemeinschaftlichen Besitzstand bedrohen, wird sich der Gerichtshof wahrscheinlich weder durch den Wortlaut der fraglichen Normen noch durch die üblichen Konventionen der Auslegungsargumentation eingeschränkt fühlen und einen stark gemeinschaftlichen Standpunkt einnehmen, gegebenenfalls unter Missachtung der geschriebenen Gesetze, aber unter dem Vorbehalt, dass er sich der ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung oder Duldung der nationalen Regierungen und Gerichte sicher ist.