
Fraternal Bonds in the Early Middle Ages
Das Problem der Geschwisterbeziehungen im Frühmittelalter ist bisher nicht eingehend untersucht worden, insbesondere im Vergleich zu den zahlreichen Studien, die sich mit den Modellen der Ehe, den sozialen Rollen der Geschlechter oder den Beziehungen zwischen den Generationen befassen. Historiker neigten häufig zu der Annahme, dass die Beziehungen zwischen Geschwistern in der europäischen Kultur naturgemäß konstant waren, da sie durch die Biologie bestimmt wurden.
Man ging davon aus, dass geschwisterliche Beziehungen per definitionem auf Loyalität, Solidarität und der Bereitschaft, im gemeinsamen Interesse zu handeln, beruhen, die sich aus der Blutsverwandtschaft ergeben. Diese Überzeugung setzt jedoch die von den mittelalterlichen Autoren verwendete Kategorie der Brüderlichkeit/Fraternitas mit Konzepten gleich, die mit Quellen aus späteren Epochen in Verbindung gebracht werden.
In dieser Studie geht es nicht um eine eng definierte Familiengeschichte, sondern um den Versuch, brüderliche Beziehungen im Frühmittelalter als mehrdimensionales kulturelles Phänomen zu untersuchen. Wie der Autor zu zeigen versucht, ist es schwierig, im neunten Jahrhundert und danach von Verwandtschaft zu sprechen, ohne sich der religiösen und ideologischen Implikationen der zu dieser Zeit stattfindenden Veränderungen bewusst zu sein, auch wenn direkte Spuren des Einflusses moralischer und theologischer Lehren auf das Verhalten des Einzelnen in den Quellen schwer zu erfassen sind.