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Scripture and Tradition: Rabbi Akiva and the Triumph of Midrash
Der früheste rabbinische Kommentar zum Buch Levitikus, die Sifra, wird im Allgemeinen als ein Beispiel für Rabbi Akivas streng biblische Interpretationsschule angesehen. Azzan Yadin-Israel vertritt jedoch die Ansicht, dass der Sifra-Kommentar zwei verschiedene Auslegungsschichten aufweist, die den biblischen Text auf dramatisch unterschiedliche Weise interpretieren: Frühere Auslegungen entsprechen den hermeneutischen Prinzipien, die mit Rabbi Ismael, der anderen wichtigen Schule des frühen rabbinischen Midrasch, in Verbindung gebracht werden, während spätere Ergänzungen die hermeneutische Terminologie und die Formeln auf subtile Weise verändern, was zu einer Auseinandersetzung mit der Schrift führt, die überhaupt nicht interpretativ ist.
Vielmehr ist die midraschische Terminologie in den anonymen Passagen der Sifra Teil dessen, was Yadin-Israel eine Hermeneutik der Tarnung nennt, die darauf abzielt, mündliche Überlieferungen so darzustellen, als seien sie auf der Schrift basierende Anweisungen. Schrift und Tradition bietet eine radikale Neuinterpretation der Sifra und ihrer Autorenschaft, die weitreichende Auswirkungen auf unser Verständnis der rabbinischen Literatur insgesamt hat. Ausgehend von diesem neuen Verständnis der Sifra zeigt Yadin-Israel einen zweifachen Bruch in der Darstellung von Rabbi Akiva: hermeneutisch gesehen wird der nüchterne Midraschist, der in früheren rabbinischen Quellen auftaucht, im babylonischen Talmud in einen inspirierten, orakelhaften Schriftausleger verwandelt, während der biographisch unscheinbare Weise als jugendlicher Ignorant dargestellt wird, der erst spät zum Torastudium kam.
Die doppelte Verwandlung Rabbi Akivas - wie auch die Hermeneutik der Tarnung in der Sifra - ist durch eine ideologische Verschiebung hin zu einer stärkeren Betonung der Autorität der Schrift und weg von den überlieferten Traditionen motiviert, eine Einsicht, die ein neues Licht auf die heikle Frage des Midrasch und der mündlichen Überlieferung in den rabbinischen Quellen wirft. Durch diese eingehende Untersuchung eines notorisch schwierigen Textes erschließt Scripture and Tradition ein wesentliches Stück der Geschichte des jüdischen Denkens.