
Essays and Lectures: A collection of Essays & Lectures by Oscar Wilde: The world is a stage and the play is badly cast
Essays und Vorlesungen
Oscar Wilde.
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Die historische Kritik kommt nirgendwo in der Zivilisation oder Literatur eines Volkes als isolierte Tatsache vor. Sie ist Teil jenes Komplexes, der auf die Freiheit hinarbeitet, die man als Revolte gegen die Autorität bezeichnen könnte. Sie ist nur eine Facette jenes spekulativen Geistes einer Neuerung, der in der Sphäre des Handelns Demokratie und Revolution hervorbringt und in der Sphäre des Denkens die Mutter der Philosophie und der physikalischen Wissenschaften ist, und ihre Bedeutung als Faktor des Fortschritts beruht nicht so sehr auf den Ergebnissen, die sie erzielt, sondern auf dem Ton des Denkens, den sie vertritt, und auf der Methode, mit der sie arbeitet. Da sie also das Ergebnis von Kräften ist, die im Wesentlichen revolutionär sind, findet man sie in der alten Welt nicht unter den materiellen Despotien Asiens oder der stationären Zivilisation Ägyptens. Die Tonzylinder von Assyrien und Babylon, die Hieroglyphen der Pyramiden bilden nicht die Geschichte, sondern das Material für die Geschichte. Die chinesischen Annalen, die bis zum barbarischen Waldleben der Nation aufsteigen, sind von einer Nüchternheit des Urteils, einer Freiheit von Erfindungen geprägt, die in den Schriften irgendeines Volkes fast beispiellos ist, aber der Schutzgeist, der diesem Volk eigen ist, erwies sich für seine Literatur als ebenso verhängnisvoll wie für seinen Handel. Die freie Kritik ist so unbekannt wie der freie Handel.
Was die Hindus betrifft, so ist ihr scharfer, analytischer und logischer Verstand eher auf Grammatik, Kritik und Philosophie als auf Geschichte oder Chronologie ausgerichtet. In der Tat scheint ihre Phantasie in der Geschichte wild geworden zu sein, Legende und Fakten sind so untrennbar miteinander verwoben, dass jeder Versuch, sie zu trennen, vergeblich erscheint. Sieht man einmal von der Identifizierung des griechischen Sandracottus mit dem indischen Chandragupta ab, so haben wir wirklich keinen Anhaltspunkt, anhand dessen wir den Wahrheitsgehalt ihrer Schriften oder ihre Untersuchungsmethoden überprüfen könnten. Beim hellenischen Zweig der indogermanischen Rasse ist die eigentliche Geschichte zu finden, ebenso wie der Geist der Geschichtskritik bei jenem wunderbaren Ableger der primitiven Arier, den wir Griechen nennen und dem wir, wie man so schön sagt, alles verdanken, was sich in der Welt bewegt, außer den blinden Kräften der Natur. Denn von dem Tag an, als sie die kühlen Hochebenen Tibets verließen und als Nomadenvolk zu den geanischen Küsten reisten, war das Merkmal ihrer Natur die Suche nach Licht, und der Geist der Geschichtskritik ist Teil jener wunderbaren Aufklrung oder Erleuchtung des Intellekts, die über die griechische Rasse wie eine große Lichtflut um das sechste Jahrhundert v. Chr. hereingebrochen zu sein scheint.