
Socialist Realism in Central and Eastern European Literatures Under Stalin: Institutions, Dynamics, Discourses
Dieser Band versammelt Beiträge von Experten für die Literaturgeschichte der mittel- und osteuropäischen Literaturen. Das übergreifende Thema ist der Export des sozialistischen Realismus nach Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, aber die Autoren sind nicht so sehr daran interessiert, den verallgemeinerten, von oben nach unten verlaufenden Mechanismus des Projekts hervorzuheben, sondern vielmehr an den Besonderheiten des jeweiligen nationalen und kulturellen Kontexts. Die Forschung zeigt, dass die Einführung des sowjetischen Kulturmodells in der Praxis nicht ganz so reibungslos verlief, wie man es sich vorgestellt hatte. Vielmehr war es immer ein "work in progress", das oft aus einem Hin und Her mit den lokalen Behörden, Intellektuellen und Interessengruppen hervorging. Die Verantwortlichen bewegten sich auf dem unsicheren Terrain lokaler kultureller und politischer Kontroversen, in einigen Ländern zwischen Tradition und Innovation, in anderen zwischen aufrichtigem Interesse an dem neuen Kunstkonzept und völliger Ablehnung neuer Regeln. Paradoxerweise ist all den unterschiedlichen Erfahrungen mit der Einführung, dem Import und der Durchsetzung des Sozialistischen Realismus in den jeweiligen nationalen Kontexten gemeinsam, dass es sich in jedem Fall um eine Reaktion auf die lokalen Gegebenheiten handelte, um einen Prozess der Bewältigung der Herausforderung, eine feste Theorie in die tägliche Realität eines fremden Landes, einer fremden Sprache und einer fremden Kultur einzubringen.
Der allgemeine Ansatz der Autoren beruht auf der Annahme einer gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen an diesem Prozess beteiligten Kräfte - sei es zwischen den "Gastkulturen" und dem "Zentrum" (d. h. den sowjetischen Behörden), den traditionellen Gruppen und den Befürwortern künstlerischer Innovationen, ähnlichen kreativen Bewegungen in verschiedenen Ländern oder politischen Rivalen und verschiedenen Interessengruppen aus dem literarischen Milieu. Die Texte in dieser Sammlung stehen aber auch in einer dialogischen Beziehung zueinander: Sie wurden mit dem Ziel ausgewählt, sich gegenseitig zu ergänzen, und bieten oft unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Thema. So kann die Episode des sozialistischen Realismus im jugoslawischen Kunst- und Schrifttum entweder als eine kurze Episode, als Grundlage des nationalen Mythos oder als ein Kapitel in der ständigen Rivalität zwischen konkurrierenden Parteien bei der Schaffung eines nationalen Kanons (Perusko, Norris, Ivic) betrachtet werden. Der tschechische Fall kann als beispielhafte Verstärkung der traditionellen Zensurmechanismen der Vorkriegszeit oder als ungeschickter Versuch gesehen werden, die sowjetische Version eines neuen positiven Helden unterzubringen (Janček, Schmarc). Die Rolle der aus dem Exil zurückkehrenden linken Intellektuellen, ihre Interaktionen mit sowjetischen Vertretern sowie die Einbettung dieser Interaktionen in die nationale Kulturdebatte in Ostdeutschland und Ungarn waren sowohl ähnlich als auch deutlich unterschiedlich (Hartmann, Fehervary, Robinson, Skradol; Scheibner, Kalmr, Balzs).
Selbst im Falle des loyalen sowjetischen Satelliten Bulgarien können die Institutionen sowjetischen Stils unterschiedlich analysiert werden, je nachdem, ob man eine synchrone Betrachtung zum Zeitpunkt ihrer Einführung oder eine diachrone Betrachtung ihrer Entwicklung im Laufe der Zeit vornimmt (Volokitina, Doinov). Gleichzeitig waren die sowjetischen Bemühungen um die Schaffung eines einheitlichen sozialistischen Kulturraums recht vielseitig und keineswegs auf Aktivitäten in bestimmten Ländern beschränkt (Subok, Djagalov, Ponomarev). Wenn es schließlich um den Untergang des Sozialistischen Realismus als gesamteuropäisches Projekt geht, ist eine länderspezifische Perspektive neben einem allgemeineren, europäischen Bild produktiv für die Beurteilung der wahren Bedeutung der fraglichen Ereignisse (Dobrenko, Günther).
Die Texte sind in Abschnitte gegliedert, die das Organisationsprinzip des Bandes widerspiegeln: ein Überblick mit Schwerpunkt auf spezifischen Fallstudien und eine Analyse der jeweiligen Besonderheiten mit dem Augenmerk darauf, welche Verhandlungs- und Anpassungsmuster dabei entwickelt wurden. Die meisten Beiträge stützen sich auf archivarische Quellen, die oft bisher unerforscht waren, und alle stellen das Thema, mit dem sie sich befassen, in einen breiteren institutionellen, sozialen und kulturellen Kontext.